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Gemeindeporträt Evangelische Kirchengemeinde Berstadt

„Ei, der Kirchturm steht noch!“  So freut sich der Berstädter, wenn er aus dem Urlaub kommt und von der A 45 nördlich von Frankfurt in sein Heimatdorf abbiegt. Schließlich sieht der  Kirchturm von Berstadt aus wie kein anderer in der Wetterau. Sein Dach ist nicht spitz und auch nicht zwiebelig, es sitzt wie ein Helm auf dem Turm und wird von vier barocken Ecktürmchen gekrönt. Kurz: Dieser Turm macht richtig was her – und das in in dem kleinen Ortsteil von Wölfersheim mit gerade mal  1705 Einwohnern.

Schon zur Bauzeit um 1650 weckte der Turm heftige Emotionen:  „Es haben die Bauern dieses Orts einen großen, hochkostbaren, unnötigen und vieledleligen Thurn aus Hoffahrt gebauet“ schrieb der damalige Gießener Superindentent Gelser. Lieber hätte er gesehen, dass die Berstädter ihr Geld in die Renovierung der baufälligen Kirche gesteckt hätten. Vielleicht fand man aber auch, dass so ein protziger Turm nur den Adligen zustehe und nicht einem kleinen Bauerndorf.

Möglicherweise liegt es an dieser Geschichte, dass die Berstädter bisweilen  als „Sturköppe“ gelten, doch Pfarrerin Kerstin Tenholte kann das nicht bestätigen. Seit Mai 2010 ist sie in der Gemeinde und erlebt  freundliche und offene Menschen. Auch sonst findet Kerstin Tenholte in Berstadt „immer eine helfende Hand“, wenn Unterstützung gebraucht wird. Dann ist auch mit einer halben Pfarrstelle zuweilen „Unmögliches möglich“, so die Erfahrung von Tenholte.

Gemeinsinn wird in dieser Gemeinde großgeschrieben und wenn Kirmes ist, feiern die Berstädter volle vier Tage durch. Da muss auch die Kirche dabei sein, findet die Pfarrerin und plant gern den Kirmesgottesdienst mit einem Team. Die Berstädter sind überhaupt ein feierfreudiges Volk – so hört man aus dem Kreis der jugendlichen Konfiteamer, die den Konfirmandenunterricht gemeinsam mit der Pfarrerin gestalten. In Berstadt  gibt es auch viele besondere Vereine, vom Zwiebelzuchtverein bis zum Ein-Loch-Golfplatz-Verein.

Das lebendige Vereinsleben ist allerdings neben der Schule eine Riesenkonkurrenz für die kirchliche Jugendarbeit. Da bleibt kaum ein Zeitfenster übrig – trotzdem gibt es ein über 20 köpfiges jugendliches Konfiteam, das aus den letzen Konfirmandenjahrgängen erwachsen ist und sich regelmäßig trifft.  Einige von ihnen haben auch die Jugendgruppenleiterausbildung, Juleica genannt, beim Dekanat gemacht. Doch auch ohne diese Jugendleitercard wird den jugendlichen Teamern in der Gemeinde Verantwortung zugetraut: Einige Konfiteamer haben den Schlüssel zum Jugendraum, der im Sommer 2012 im Untergeschoss des Gemeindehauses eingerichtet wurde. Die Gestaltung durften sie selbst bestimmen und durchführen. Kerstin Tenholte findet es wichtig, jungen Menschen Freiräume zu eröffnen und ihnen zu helfen, eigene Talente zu entdecken. Die Konfiteamer planen den  Konfirmandenunterricht mit, sie schlagen Themen vor, moderieren Fragerunden oder Spiele und gestalten einzelne Stunden selbst.

Den Nachwuchs hat die Pfarrerin – selbst Mutter von Zwillingen – fest im Blick. Und wenn Nachwuchs unterwegs ist, bekommen auch Ehrenamtliche, wie die ehemalige Kirchenvorsteherin Santra Knöll-Musch eine richtige „Elternzeit“. Die Kinderkirche, die auch mal in den Sommerferien stattfindet gestaltet das Team projektorientiert. 2011 waren zum Beispiel interreligiöse Begegnungen Thema: die Kinderkirche besuchte die Synagoge in Bad Nauheim und eine Moschee in Nidda und es wurden Kontakte zu einer muslimischen Mädchengruppe geknüpft. 2012 stand das Thema Taufe im Mittelpunkt. Im Kinderkirchenerntedankgottesdienst wurden die mitgebrachten Kuscheltiere „getauft“. 2013 beschäftigte sich die Kinderkirche mit dem Kirchenjahr und erlebte im Maislabyrinth in Eberstadt dazu verschiedene Stationen, die von den Konfirmanden vorbereitet worden waren.

Im Blick über den Tellerrand sieht Tenholte das Plus kirchlicher Jugendarbeit im Unterschied zu den dörflichen Vereinen. Und genau deshalb ist ihr das Engagement der Jugendlichen in Juleica und Dekanatsjugend so wichtig.

Wie der Blick aufs Eigene und in die Welt zusammengehen zeigt auch ein anderes Projekt: 2011 veranstaltete die Kirchengemeinde gemeinsam mit dem Frankfurter  Bibelhaus eine Bibelausstellung. Die alten Berstädter Familien förderten unglaubliche Bibelschätze aus Truhen und Speichern zutage – das älteste Exemplar war von 1588! Doch die  Exponate des Bibelhauses zeigten auch Bibeln aus Neuseeland, Japan oder dem Kongo. Im Gottesdienst, an dem die Kirche voll war wie sonst nur an Heiligabend, wurde vielsprachig aus dem Buch der Bücher gelesen. Für Kerstin Tenholte illustriert das wunderbar eine wichtige Leitlinie ihrer Gemeindearbeit: „Kirche gehört zum Dorf, weist aber auch über das Dorf hinaus.“

„ Andere gute Projekte sind aus einem Mangel heraus entstanden“, erzählt die Pfarrerin. Wie man in Berstadt versteht, aus der Not eine Tugend zu machen, zeigen die neuen Paramente der Kirche. Die alten, die Kerstin Tenholte bei ihrem Amtsantritt vorfand,  waren löchrig und verschlissen, für neue aus der Darmstädter Paramentenwerkstatt fehlte das Geld. Trotzdem gibt es sie jetzt in der schönen hellen Kirche: Die Konfirmanden des Jahrgangs 2012 haben sie mit Hilfe von aktiven Kirchenvorsteherinnen auf der Konfirmandenfahrt selbst entworfen und mit Stofffarben gemalt. „Wir haben jetzt sogar ein blaues Parament“, freut sich Kerstin Tenholte. Dieses Taufparament  ist wohl in der EKHN etwas ganz Besonderes – ganz so wie der Berstädter Kirchturm.

Text: Annegret Rach, Evangelisches Dekanat Wetterau (2014) bearbeitet 2023

 

 

 

 

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